Sprachwissenschaftliche Sektionen

Sektion 5 und 7: Discours de haine et politesse : usages linguistiques divergents dans les médias de masse francophones

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Sektion 8: Die Popularität des Französischen im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts

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Sektion 9: Der 'langage populaire' in der Diachronie: neue Archive, neue Blicke

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  • Sektion 9: Beschreibung

    Agnès Steuckardt1, Joachim Steffen2, Sybille Große3

    1Université Paul Valéry, Montpellier III, 2Universität Augsburg, 3Universität Heidelberg

    agnes.steuckardt@univ-montp3.fr, joachim.steffen@philhist.uni-augsburg.de, sybille.grosse@rose.uni-heidelberg.de

     

     

     

    Der langage populaire in der Diachronie: neue Archive, neue Blicke

    Während seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Oral History auch die Stimmen der einfachen Leute berücksichtigt, liegen für die Zeit davor kaum Daten zur Mündlichkeit aus diesem Teil der Bevölkerung vor; und auch die schriftlichen Quellen lagerten ihrerseits unzugänglich in Familiennachlässen oder Archivbeständen mit eingeschränktem Zugang. In jüngerer Zeit jedoch wurden durch die Digitalisierung private Archive erschlossen, welche bisher als Quellen nur in sehr beschränkter Weise verfügbar waren. Zudem war ein großer Teil der ältesten dieser Quellen (vor der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert) zumeist unbekannt – sogar in den Archiven selbst, in denen diese lagerten. Nun haben europäische Sammelprojekte es ermöglicht, Ego-Dokumente zu erheben und online herauszugeben, die von gebildeten Personen seit dem 15. Jahrhundert (Bardet & Ruggiu, 2014) verfasst wurden, aber auch solche von einfacheren sozialen Schichten, welche ab dem Ende des 19. Jahrhundert massiv Zugang zur Alphabetisierung hatten (vgl. z.B. die Grande Collecte, die in Frankreich seit 2013 anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Ersten Weltkriegs durchgeführt wurde und aus der Corpus 14 hervorgegangen ist; vgl. auch den Corpus historique du substandard français, initiiert von Harald Thun). Diese Quellen eignen sich für unterschiedliche analytische Herangehensweisen wie etwa sprachwissenschaftliche Untersuchungen im engeren Sinne, d.h. Studien zur Orthographie, der Lexik, der Syntax oder Pragmatik bis hin zu Mehrsprachigkeitsstudien. Die Dokumente eröffnen der Linguistik und der transdiziplinären Forschung aber auch die Möglichkeit, einen neuen Blick darauf zu werfen, was in der Sprachwissenschaft unter “langage populaire” (Bauche 1920), “langue populaire” (Brunot 1939) oder in der Literatur auch “langue peuple” (Meizoz 2005) gefasst wurde.

    Im Rahmen des Frankoromanistentags nehmen wir uns vor, diesen langage populaire unter neuen Gesichtspunkten zu diskutieren: wir wählen dabei den Begriff langage, um dabei gleichzeitig Fakten des Sprachsystems wie Fakten des Diskurses zu berücksichtigen; außerdem sowohl Aspekte der Mündlichkeit wie der Schriftlichkeit, die sich in einem sehr charakteristischen Mischungsverhältnis in den Texten finden – auch wenn sie natürlich stets im graphischen Medium realisiert sind. Die Kennzeichnung populaire werden wir dazu genauer einzugrenzen haben: ursprünglich bezieht sie sich auf eine soziale Vorstellung, deren Konturen je nach Epoche variieren und die zu definieren sein wird; der Begriff wird außerdem gebraucht, um eine Sprachverwendung zu erfassen, die „nicht-normiert“ oder „gesprochen“ (Gadet 1991; Jahandarie 1999) ist. Die Schnittmengen zwischen diesen Kategorien werden zu hinterfragen sein (Mahrer, 2017). Unser Vorschlag ist darüber hinaus offen für eine Neubewertung hinsichtlich seiner Gattungszuschreibung. So werden wir uns auch fragen, ob die Kategorie „populaire“ überhaupt – auf Basis welcher Kriterien, wenn nicht empirischer? – definiert werden kann, inwieweit „populaire“ in unterschiedlichen Räumen und Ländern das gleiche bedeutet, und ob die Kategorie „populaire“ die gleichen Beziehungen mit den Begriffen „savant“ bzw. „lettré“ aufweist. Denn selbst wenn die scripturalité populaire nicht den gleichen Regeln wie die Standardnorm gehorcht, so erweist sie sich dennoch nicht als völlig willkürlich. Fragen, die zu beantworten sein werden, sind also, welche Regelhaftigkeiten sich auf regionaler und nationaler Ebene herausbilden und ob die Volksschriftlichkeit in diesem Sinne eine geschriebene diastratische Varietät darstellt, die mehr oder weniger unabhängig ist.

    Wir beabsichtigen, in unserer Sektion Sprachwissenschaft und Literatur miteinander zu verbinden: der langage populaire nutzt als Datengrundlagen einerseits linguistische/natürliche Sprachdaten (Frei 1929; Labov, 1972; Branca-Rosoff & Schneider 1994), und andererseits literarische Sprachdaten (Holtus 1972; Blank 1991; König 2002), nur wenige Studien nehmen jedoch beide Quellensorten – literatur- und sprachwissenschaftliche gleichermaßen – in den Blick (vgl. jedoch François 1999; Dargnat 2006, 2008; Rey/Duval/Siouffi 2007). Unser Ziel wird es sein, Erträge beider Ansätze herauszuarbeiten und miteinander zu verbinden.

    Die Sektion lädt zu einer intra- und transdisziplinären Reflexion in drei thematischen Bereichen ein:

    • Der langage populaire anhand von Primärquellen – Herausgaben und Analysen privater Archivbestände: Forschungsstand und Diskussion über Divergenzen und Konvergenzen zwischen Datensätzen sowie über die Methodologie der Korpuserstellung
    • Der langage populaire jenseits der Stereotype: Diskussion der pluridisziplinären Konzeptualisierung des ‘langage populaire’ und seiner spezifischen Beschreibung
    • Der langage populaire und seine Repräsentationen in literarischen und paraliterarischen Werken

     

    Bibliographie

    Bardet, Jean-Pierre & François-Joseph Ruggiu (eds.). 2014. Les écrits du for privé en France de la fin du Moyen Âge à 1914. Paris: Éditions du CTHS.
    Bauche, Henri. 1928. Le langage populaire. Paris: Payot.
    Blank, Andreas. 1991. Literarisierung von Mündlichkeit: Louis-Ferdinand Céline und Raymond Queneau. Tübingen: Narr.
    Branca-Rosoff, Sonia & Nathalie Schneider. 1994. L’écriture des citoyens. Une analyse linguistique des peu-lettrés pendant la période révolutionnaire. Paris: Klincksieck.
    Brunot, Ferdinand. 1939. Histoire de la langue française, t. X. Paris: A. Colin.
    Dargnat, Mathilde. 2006. L’oral comme fiction: stylistique de l’oralité populaire dans le théâtre de Michel Tremblay (1968-1998), thèse présentée à l’U. de Provence et à l’U. de Montréal.
    Dargnat, Mathilde. 2008. La catégorisation de la variation linguistique dans un cadre fictionnel. Grenzgänge 15/30. 11–41.
    Ernst, Gerhard. 1999. Zwischen Alphabetisierung und ‚français populaire écrit‘. Zur Graphie privater französischer Texte des 17. und 18. Jahrhunderts. In Ammon, Ulrich, Klaus J. Mattheier, Peter H. Nelde (eds.), Sociolinguistica. Internationales Jahrbuch für Europäische Soziolinguistik, 91–111. Tübingen: Max Niemeyer.
    Ernst, Gerhard. 2019. Textes français privés des XVIIe et XVIIIe siècles. Berlin/Boston: De Gruyter.
    Fairon, Émile & Henri Heuse. 1936. Lettres de grognards. Liège: Bénard.
    Frei, Henri. 1929. La grammaire des fautes. Paris: Geuthner.
    François, Denise. 1999. Le langage populaire. Antoine, Gérald & Robert Martin (eds), Histoire de la langue française (1880-1914), 293–327. Paris: CNRS éditions.
    Gadet, Françoise. 1991. Simple, le français populaire. Linx 25. 63–78.
    Gadet, Françoise. 1989. Le français ordinaire. Paris: Colin.
    Guiraud, Pierre. 1973. Le français populaire. Paris: Presses universitaires de France.
    Holtus, Günter. 1972. Untersuchungen zu Stil und Konzeption von Célines Voyage au bout de la nuit. Bern: Lang.
    Hunnius, Klaus 1975. Archaische Züge des langage populaire. Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 85/2. 145–161.
    Jahandarie, Khosrow. 1999. Spoken and Written Discourse: A Multidisciplinary Perspective. Stamford (Connecticut): Ablex.
    König, Brigitte. 2002. Speech Appeal: Metasprache und fingierte Mündlichkeit im Werk von Mario Vargas Llosa. Tübingen: Narr.
    Labov, William. 1972. Sociolinguistic Patterns. Philadelphia: University of Pennsylvania Press.
    Mahrer, Rudolf. 2017. Phonographie. La représentation écrite de l’oral en français. Berlin/Boston: de Gruyter.
    Meizoz, Jérome. 2005. La langue-peuple dans le roman français. Hermès. 101–106.
    Philippe, Gilles. 2009. Français populaire, français élémentaire et français littéraire. In Gilles Philippe & Julien Piat (eds.), La langue littéraire – Une histoire de la prose en France de Gustave Flaubert à Claude Simon, 64–68. Paris: Fayard.
    Rey, Alain, Frédéric Duval & Gilles Siouffi. 2007. Mille ans de langue française. Paris: Perrin.
    Rézeau, Pierre. 2018. Les mots des Poilus. Strasbourg: ÉLiPhi.
    Schikorsky, Isa. 1990. Private Schriftlichkeit im 19. Jahrhundert: Untersuchungen zur Geschichte des alltäglichen Sprachverhaltens „kleiner Leute“. Tübingen: Niemeyer.
    Steffen, Joachim, Harald Thun & Rainer Zaiser (eds.). 2018. Classes populaires, scripturalité et histoire de la langue. Un bilan interdisciplinaire. Kiel: Westensee-Verlag.  
    Thun, Harald. 2018. Substandard und Regionalsprachen. Das Corpus Historique du Substandard Français, die écriture populaire und die écriture alternative. In Schäfer-Prieß, Barbara & Roger Schöntag (eds.), Seitenblicke auf die französische Sprachgeschichte. Akten der Tagung Französische Sprachgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München (13.-16. Oktober 2016), 257–303. Tübingen: Narr Francke Attempo.

     

    Les résumés n’excèdent pas 500 mots (sans bibliographie). La soumission des résumés se fait à l’aide du formulaire téléchargeable sur le site web du Congrès, en langue française ou allemande, à envoyer jusqu’au 15 janvier 2022 (date limite) à l’adresse suivante : joachim.steffen@philhist.uni-augsburg.de. Les notifications d’acceptation seront envoyées avant le 28 février 2022.

    Die Einreichungen haben eine Länge von höchstens 500 Wörtern (ohne Bibliographie). Für die Einreichungen wird die Vorlage verwendet, die auf der Wiener Webseite des Kongresses verfügbar ist, in französischer oder deutscher Sprache; sie sollen bis zum 15. Januar 2022 an die folgende Adresse geschickt werden: joachim.steffen@philhist.uni-augsburg.de. Über die Annahme wird bis 28. Februar 2022 informiert.

  • Sektion 9: Programm

    Institut für Romanistik (Hof 8): Seminarraum ROM 9 (3B-O1-21)

    Donnerstag

    09:45-10:30Verena Weiland & Sybille Große: Regards croisés sur le concept du populaire du XVIIe siècle au XXe siècle 
    Pause
    11:00-12:30Lena Sowada: Des scripteurs moins expérimentés et leurs écrits pendant la Première guerre mondiale : des archives en faveur de l’étude d’un langage populaire ?

    Beatrice Dal Bo: Le « langage populaire » confronté aux écrits de scripteurs peu lettrés de la Grande Guerre
    Pause
    14:30-16:00Plenarvortrag Literaturwissenschaft
    Matthieu Letourneux: Du populaire à la pop (1945-2000) Le transmédia Fleuve noir, chaînon manquant des études sur la culture populaire française.
    HS C1 (Campus, Hof 2)
    Pause
    16:30-17:30

    Gilles Siouffi: Conférence inaugurale : Aux origines de la qualification en "populaire" 

    Freitag

    09:00-10:30Agnès Steuckart & Chantal Wionet: Le lexique populaire pendant la Première Guerre mondiale : usages et artefact 

    Jürgen Erfurt: <oujerestois Six Semainechez elle>: Laienschriftlichkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Spannungsfeld von Mobilität, Kontakt und sprachlichem Ausbau 
    Pause
    11:00-12:30

    Sascha Diwersy & Melanie Uth: « Les mots populaires » zwischen Wörterbuch und Sprachkorpus 

    Hervé Bohbot: Les marques d’usage « populaire » dans le Petit Larousse illustré (1906 à 2022)

    Pause
    14:30-16:00Corinne Gomila: Doublons et réduplications dans les correspondances du Corpus 14 : la répétition serait-elle un trait du « langage populaire » ? 

    Julie Glikman, Camille Fauth, Nicolas Mazziotta & Christophe Benzitoun: Une nouvelle voie d’accès au français populaire : les Vocaux
    Pause
    16:30-18:00Plenarvortrag Sprachwissenschaft
    Marie-Hélène Côté: Le destin variable des traits du français parlé au Québec.
    HS C1 (Campus, Hof 2) 

    Samstag

    09:00-10:30Benjamin Meisnitzer & Joachim Steffen: Déplacement d’origo dans la tradition discursive épistolaire de l’écriture populaire

    Katharina Fezer: Briefe als Zeugnisse eines langage populaire im 17. Jahrhundert? 
    Pause
    11:00-12:30Benjamin Peter: Der langage populaire und diachrone Evidenzen von Normkompetenzen in der Syntax: Reflektionen zur theoretischen Einordnung akadischer Briefe und ihrer SchreiberInnen

    Hugues Galli: Parler peuple, parler pour le peuple : usage(s) et fonction(s) de la langue populaire et argotique dans l’almanach du Père Peinard, journal anarchiste de la fin du XIXe siècle

    Sektionsprogramm zum Ausdrucken

    Abstracts zum Ausdrucken

Sektion 10: La langue française : variations, variétés, diversité

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